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Annika Schleu: Voller Hoffnung nach Paris // Podcast von Inga Böddeling
ie Bilder gingen um die Welt. Annika Schleu, wie sie in Tränen aufgelöst auf ihrem Pferd sitzt, die Gerte einsetzt,
um Saint Boy irgendwie doch noch davon zu überzeugen, den olympischen Parcours der Modernen Fünfkämpfer
D in Tokio zu absolvieren. Fast neun Monate ist das jetzt her. Neun Monate, in denen die Berlinerin viel Zeit hatte,
um das Erlebte zu verarbeiten und Pläne für die Zukunft zu schmieden. In der neuen Folge „Helden der Hauptstadt“, dem
Podcast des Olympiastützpunktes Berlin und der Berliner Morgenpost, spricht die 32-Jährige über eigene Fehler, Hassbot-
schaften und ihren Nachwuchs, den sie im August erwartet.
Wie beschreiben Sie mittlerweile selbst, was da am
6. August bei den Sommerspielen in Tokio passiert ist,
Frau Schleu?
Annika Schleu: Es ist ja jetzt ein bisschen Zeit vergangen und
ich habe Abstand zu der Geschichte gewonnen. Aber trotz-
dem war es der Tag mit den höchsten Höhen und größten
Tiefen meiner sportlichen Karriere. Das war definitiv ein Wen-
depunkt für mich, in meinem Leben und in unserer Sportart.
Es war der Tag, an dem die Medaillenentscheidungen fal-
len sollten, Sie waren vor dem Reiten auf Goldkurs, bis Ihr
Pferd Saint Boy verweigerte und nichts mehr ging.
So ist mir das vorher bei keinem Wettkampf passiert. Das ist
auch eine schwierige Situation, weil ich inzwischen die Fern-
sehbilder kenne und der Meinung bin, dass dort ein Bild proji-
ziert wird, das abweicht von der ganzen Geschichte. Da gehört
auch das Abreiten, das Kennenlernen mit dem Pferd dazu. Das
war sehr harmonisch, alle Probesprünge haben funktioniert,
und bis dahin dachte ich, wir verstehen uns wirklich gut. Ich
bereue es so sehr, dass es davon keine Bilder gibt. Aber trotz-
dem war es eine unschöne Situation, für mich und für das
Pferd, zu der es nicht kommen sollte.
Wieso ist es trotzdem dazu gekommen?
Ich habe mit nichts Negativem gerechnet, weil es vorher so
gut lief. Ich hatte da auch gar nicht die Panik und Hysterie, die
mir zugeschrieben wurde. Aber als wir dann in den Parcours
geritten sind, entzog er sich mir komplett. Die Anspannung
war plötzlich so groß, und das war die Sekunde, als die Kame-
ras auf uns gerichtet waren.
Was ist Ihnen in dem Moment durch den Kopf gegangen?
Es war eine Kombination aus Überforderung und Überra-
schung, weil ich in so einer Situation vorher noch nicht war. Im
Nachhinein hätte ich anders reagieren müssen. Besonnener,
ruhiger. Vielleicht wäre es dann anders ausgegangen. Aber in fen, von außen ein beruhigendes Einwirken zu bekommen.
der Situation ist man im Wettkampfgeschehen und alles ging Das war ja nicht vorhanden.
so schnell. Ich hätte gefühlt eine Reset-Taste gebraucht, um
mich aus dem Moment rauszuholen und es noch einmal in Es ist auch viel Kritik an Bundestrainerin Kim Raisner ge-
Ruhe zu probieren. Und das war der Fehler, den ich gemacht übt worden, die Ihnen mehrfach „Hau drauf, hau richtig
habe und den ich nicht mehr rückgängig machen kann. drauf“ zugerufen hat. War das mit ein Auslöser?
Es war die Gesamtkonstellation, auch Saint Boy, der komplett
Was hätte in dem Moment dazu beigetragen, dass Sie sich verunsichert war, dann war es meine eigene kurze Überfor-
anders verhalten? derung und diese Unruhe, das Panische von außen. Geholfen
Vielleicht hätte mir ein Impuls von außen geholfen. Ohne jetzt hätte vielleicht eher, wenn man mich noch mal zur Ruhe geru-
den Trainern einen Vorwurf zu machen, weil sie in der Situati- fen hätte. Aber das sind Spekulationen. Es ist so passiert, hätte
on ja auch angespannt waren. Aber vielleicht hätte es gehol- nicht passieren sollen und es wird nicht mehr passieren.
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