Sie soll Rückenwind geben auf dem Weg zu Gold, Helfershelferin sein für die ganz großen Siege: die Wissenschaft, die sportliche Spitzenleistungen ermöglicht.
Das Sportjahr 2024 hat längst begonnen, los ging es mit der Handball-EM der Männer, weitere Höhepunkte folgen mit den Olympischen Sommerspielen und Paralympics in Paris oder der Fußball-Europameisterschaft der Männer. Wie ist ein noch „schneller, höher, weiter“ deutscher Athlet:innen möglich?
Das war Thema beim Forum Wissenswerte von rbb24 Inforadio und der Technologiestiftung Berlin.
Ein Bericht von Anna Corves.
Dr. Nikolai Böhlke ist an Berlins Spitzensportler:innen ganz nah dran: Er ist Trainingswissenschaftler und koordiniert alle Betreuungsbereiche im Olympiastützpunkt Berlin, ob es um das Bundeskader Rudern geht, um Eishockey oder Turnen. Mit seinem Team unterstützt Böhlke die Trainer:innen, das Beste aus den Sportlerinnen und Sportlern herauszuholen. In diesem Hochleistungssegment, wo es um Hundertstelsekunden und Millimeter geht, kann Forschung den entscheidenden Unterschied machen. „Unsere Branche lebt davon, dass wir auf der Welle der wissenschaftlichen Forschung vorne mitschwimmen. Das definiert, wer den kleinen Vorsprung hat.“
Daten sind das Werkzeug der Wissenschaftler:innen, die Leistungen der Athletinnen und Athleten werden genaustens analysiert. So können sie die persönlichen Trainer:innen der Leistungssportler beraten, auswerten, welche Maßnahmen Erfolge gebracht haben, welche nicht. „Der Bedarf an wissenschaftlicher Betreuung hat auf jeden Fall zugenommen, weil die Margen in der obersten Riege enger werden“, so Böhlke. Es kommt also auf kleinste Feinheiten an.
Diese kleinen, aber entscheidenden Unterschiede zu den Mitbewerbern – auf die zielt auch Michael Nitschs Arbeit. Er ist Ingenieur und Direktor des Berliner Instituts für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES). Sein Team will Sportler:innen mit den schnellsten Gerätesystemen für Kanurennsport und den Bahnradsport, Bobs oder anderen Sportgeräten sowie Mess- und Informationssystemen ausstatten. Das heißt: „Wir versuchen, die Aerodynamik zu überlisten, die Reibung auf Eis oder Schnee oder des Wassers zu verringern. Für eine höhere Wettkampfgeschwindigkeit, mit der man Medaillen gewinnt.“ Wie hoch der Anteil ist, den die Sportgeräte am Sieg der Athlet:innen habe, lasse sich nicht beziffern, so Nitsch. Letztlich müssten aber beim Spitzensport alle Komponenten auf höchstem Niveau liegen, wie er am Beispiel des Bobfahrens beschreibt: „Der Bob muss top angeschoben werden, der Pilot muss ihn sauber durch die Bahn bringen – und das Gerät muss möglichst wenig Luft- und Reibungswiderstand haben.“ Dafür ist es wichtig, dass sein Institut up to date ist mit Blick auf die neuesten ingenieurwissenschaftlichen Werkzeuge. „Da wir sehr viel mit Computern simulieren und konstruieren, werden die Sportgeräte immer leistungsfähiger, so dass Ergebnisse erzielt werden, die im letzten olympischen Zyklus noch nicht möglich waren.“
Es wird viel Zeit und Geld in diesen Feinschliff gesteckt. Da erstaunt es, dass eine große Einflussgröße zumindest auf die Leistungsfähigkeit von Frauen im Spitzensport erst seit wenigen Jahren Beachtung findet: Der weibliche Zyklus. Dazu forscht Kirsten Legerlotz, Professorin am Institut für Sportwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie hat in einem Projekt 14 Ruderinnen aus dem Bundeskader über drei Monate begleitet. Fast täglich wurden sie mit Blick auf ihre Kraft- und Ausdauerleistungsfähigkeit getestet, mussten außerdem Fragen zu Schlafqualität, Wohlbefinden und anderen Faktoren beantworten. Was dabei auffiel: „Wir haben im Hochleistungssport ein großes Problem mit Zyklusstörungen.“ Manche Zyklen waren zu lang, andere zu kurz, manche Frauen hatten gar keine Blutung. „Das sind alles Zeichen für eine subtile hormonelle Dysregulation, die dann stattfindet, wenn der Körper zu gestresst ist.“ Und das wirke sich langfristig auch auf die sportliche Leistungsfähigkeit aus, sei beispielsweise nachweislich mit einem erhöhten Verletzungsrisiko verbunden. Insofern sei der Zyklus ein Thema, das eigentlich für die Gestaltung des Trainingsprozesses relevant ist. Das sei aber weder Athletinnen noch Trainern:innen bisher ausreichend bewusst, es würde wenig darüber gesprochen.
Da sind andere Nationen durchaus weiter, weiß Nikolai Böhlke vom Berliner Olympiastützpunkt, der im Rahmen des Forschungsprojekts mit Kirsten Legerlotz kooperiert hat. „Das Thema steckt hierzulande auch akademisch noch in den Kinderschuhen.“ Daher gebe es noch keine Rezepte, an denen man sich diesbezüglich bei der Gestaltung des Trainings orientieren könne, akademische Forschung und Sportpraxis müssten sich begleitend entwickeln. „Der Aufwand ist immens. Uns fehlt auch die Betreuungsdichte an Personal, um uns dem Thema im großen Stil zu widmen. Was ein Defizit ist, da andere Sportsysteme das durchaus priorisiert haben und mit Nachdruck beforschen.“
Es ist auch eine Frage der finanziellen Ressourcen und der Prioritäten. Wie viel Geld ist die Politik, die Gesellschaft, bereit, in den Spitzensport zu stecken? Diese Frage steht auch im Raum, wenn es um die Austragung Olympischer Spiele in Deutschland geht. Die Bundesregierung strebt eine Bewerbung für 2036 oder 2048 an. Die Ausrichtung Olympischer Spiele ist mit riesigen Investitionen verbunden. Nichtsdestotrotz befürworten alle drei erwartungsgemäß eine solche Bewerbung.
Sportgeräteentwickler Michael Nitsch hebt die motivierende Wirkung hervor, die es haben kann, wenn man Spitzensportler:innen sieht, die beeindruckende Leistung erzielen. Dass dann die Lust steigt, auch selbst sportlich aktiv zu werden. Und das sei sehr wichtig für eine gesunde Gesellschaft, betont Nikolai Böhlke. Laut des 4. Deutschen Kinder- und Jugendsportberichts erreichen rund 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen nicht das von der WHO empfohlene Mindestmaß an täglicher Bewegung. Dass die athletischen Grundfertigkeiten fehlen, beobachtet er auch selbst als ehrenamtlicher Übungsleiter im Sportverein. „Es besteht eine gute Chance, dass olympische Spiele und der Erfolg der eigenen Athleten einen trickle-down-Effekt hat.“ Allerdings sei das kein Automatismus: „Wir können nicht darauf hoffen, dass nach einer Olympiabewerbung von Deutschland die Turnhallen voll sind, wenn bei denen das Wasser durch die Decke tropft.“ Genau hier sieht HU-Professorin Kirsten Legerlotz die Chance von Olympischen Spielen in Deutschland: „Sie könnten einen riesigen Impuls für das deutsche Sportsystem bedeuten.“
Auf dem Podium:
Prof. Kirsten Legerlotz, Professorin am Institut für Sportwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiterin der Arbeitsgruppe Movement Biomechanics
Dr. Nikolai Böhlke, Trainingswissenschaftler am Olympiastützpunkt Berlin und dort Koordinator für Betreuung
Michael Nitsch, Direktor am Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) in Berlin
Moderation:
Axel Dorloff, rbb24 Inforadio.
Das Forum Wissenswerte ist eine gemeinsame Veranstaltung des rbb24 Inforadios und der Technologiestiftung Berlin.
Podcast: https://www.inforadio.de/podcast/feeds/debatte/debatte.html
Bericht & Foto: Technologiestiftung Berlin